Vor Winnetou kommt der Koala

Was, von Karl May noch nie etwas gehört, geschweige denn etwas von ihm gelesen? Das kann durchaus sein. Mit 100 000 000 verkauften Büchern gilt der Autor schier unzähliger Abenteuerromane zwar nach Angaben seines Verlags als „der meistgelesene Schriftsteller deutscher Sprache.“ Er hat wohl auch heute noch unter jungen Lesern seine Anhängerschar – die dürfte allerdings geringer sein als zu Zeiten, da sich Jungs gerne als Winnetou oder Old Shatterhand fühlten. Wer in dieser Hinsicht ein Defizit verspürt, alte Lektüre-Erinnerungen auffrischen oder sich dem Werk von Karl May unter neuen, unkonventionellen Aspekten widmen möchte, den lockt jetzt das marotte-Figurentheater.
Dort hat am 11. Oktober das Stück „Winnetou – Der Schatz im Silbersee“ Premiere. Hausherr Thomas Hänsel gehört noch zu denen, die in ihrer Jugend die Romane des sächsischen Autors verschlungen haben. Wobei es gar nicht einfach war, an die Geschichten ranzukommen. Der Theatermann erinnert sich: „Ich lebte zwar nur 30 Kilometer Luftlinie von seiner Villa in Radebeul entfernt, aber die Bücher bekam ich aus Regensburg oder Hamburg.“ Die DDR setzte eher auf Karl Marx als auf Karl May, und so erhielt Hänsel seinen Lesestoff per West-Paket mit doppeltem Boden.
Jetzt hat er sich Mays „Schatz im Silbersee“ vorgenommen, wobei ihn der erste Satz in der Einleitung von „Winnetou 1“ zu einer besonderen Rahmenhandlung inspirierte. „Immer fällt mir, wenn ichan den Indianer denke, der Türke ein,“ heißt es da merkwürdigerweise. Der Türke? Da fiel Hänsel sein Kollege Rusen Kartaloglu ein. Mit ihm wird er die Geschichte eines Ausländers präsentieren, der als Deutscher eingebürgert werden will und bei seinen Integrationsbemühungen auf einen Karl-May-Fan als den für ihn zuständigen Beamten trifft. Dass der Name des türkischen Theaterpädagogen, Schauspielers, Autors und Regisseurs auf Deutsch „Sohn des Adlers“ bedeutet, verstärkte noch Hänsels Wunsch, das neueste Abendstück der marotte gemeinsam mit Rusen Kartaloglu auf die Bühne zu bringen.
Vorher allerdings hat eine Geschichte für Kinder ab drei Jahren Premiere: Bereits am Samstag heißt es im Theaterhaus „Koalabär und Freunde“, frei nach dem Kinderbuch „Trau dich, Koalabär“ von Rachel Bright und Jim Field. Claudia Olma hat das Stück inszeniert, in dem es um kleinen kuscheligen Helden geht, der lernt, seine Ängste zu überwinden und mutig zu sein.
Sechs Abendstücke hat die marotte derzeit im Spielplan und bedient damit auch ein Stammpublikum. Bei den Kinderstücken ist das anders: Da wechselt die Klientel etwa alle vier Jahre. Klar: Die Kleinen werden groß. Und irgendwann reif fürs Abendprogramm.
Michael Hübl